Rehpfad

Künstlerisches Forschungsprojekt | Multimedia

Das Reh ist Hüter des Waldes, Symbol für das Verschwinden und den Abschied. Es verwandelt sich in den Greis mit den schwarzen Händen, der uns zu den unterirdischen Höhlen führt.
(Das Reh in der Mythologie der Maya) 

Rehpfad ist ein kontinuierlich anwachsender Werkkomplex in unterschiedlichen Medien, der seinen Ursprung in meiner Auseinandersetzung mit den Mythen der ‚Neuen Welt‘ und meiner eigenen, von Migrationen geprägten Biographie hat. Es kommen darin zwei Arten von Gestalten vor, die Kopflosen und die Fellwesen. Sie verkörpern Bilder, die Menschen sich vom Unbekannten machen. In meiner Arbeit versuchen sie einander zu verschiedenen Zeiten der Menschheitsgeschichte zu unterwerfen, lassen sich jedoch nicht eindeutig der einen oder anderen Seite der Kolonialgeschichte zuordnen. Somit verstehe ich Rehpfad auch als alternative Geschichtsschreibung mit künstlerischen Mitteln.

Vorgeschichte 

Im November 1973, drei Jahre vor meiner Geburt, drehen meine Eltern sich beim Abschied am Flughafen von Santiago de Chile nach meinem Großvater und seiner Fotokamera um. Ein kurzer Blick zurück, sie verlassen die südliche Hemisphäre, sie wandern aus – von der ‚Neuen Welt‘ in die ‚Alte‘. Sie kehren zurück nach Europa, von wo aus ihre Vorfahren nur wenige Generationen zuvor aufgebrochen waren – mit wenig mehr im Gepäck als ihrem Glauben, ein wenig Hoffnung und sehr viel Angst. 

Die Schrankwand 

Wenige Jahre später leben meine Eltern mit mir in einer westdeutschen Kleinstadt. Meine Mutter fürchtet sich vor den deutschen Frauen der siebziger Jahre. In ihren Augen sind es hünenhafte Wesen mit baumelnden Brüsten, stark behaarten Beinen und Achseln und langen Fußnägeln. Sie schminken sich nicht und sprechen zu laut. Meine Eltern meiden diese Wesen. 

Unsere Adresse ist der Rehpfad, Hausnummer 1. In unserem Wohnzimmer, dem sogenannten el living, steht eine viel zu große, dunkelbraune Schrankwand aus südamerikanischem Edelholz, die Erinnerungen an das Land meiner Großeltern beherbergt: Fotografien, aufgespießte Schmetterlinge, Bildbände, Schallplatten, die Stereoanlage meines Vaters und einen Fernseher, der die Bilder der Welt in unser Haus trägt. Für mich birgt dieser ‚Altar‘ damals den Eingang zu einer ‚Neuen Welt‘, die im Großen und Ganzen bis heute meine Welt geblieben ist. Die multimediale Schrankwand im einstigen Rehpfad ist Ausgangspunkt des Projekts Rehpfad.

Der unabgeschlossene Werkkomplex verzweigt sich kontinuierlich in weitere Rehpfade.

Foto: Carlos Witt, Santiago de Chile (1973)