Juan y Medio
Dokumentarfilm
„Ohne Ressentiment gibt es keine Kraft.“
Juan Barrera
Als Kind habe ich es geliebt, nach dem Abendessen unter dem Tisch zu spielen, wenn wir bei unserer Familie in Chile waren. Die Erwachsenen dachten, ich würde sie nicht verstehen, wenn sie nur leise genug sprachen. Aber es sickerte immer etwas zu mir hindurch, und ich verstand mehr, als ihnen lieb war. Es gab niemanden, über den in unserer Familie nicht gelästert wurde. Das war oft verwirrend, denn Leute, die man an einem Tag besuchte, machte man noch am selben Abend hinter ihrem Rücken schlecht. Ich tat zwar so, als hätte ich nichts mitbekommen dort unten, unter der Tischplatte. Aber insgeheim war ich stolz, teilzuhaben an la pelea, dem Streit.
Juan y Medio war der Spitzname meines großgewachsenen Urgroßvaters. Juan y Medio heißt auch das legendäre Fernfahrer-Restaurant, das er direkt an der Panamericana gegründet hat – hundert Kilometer südlich von Santiago de Chile.
Ich bin meinem Urgroßvater nie begegnet. Auch an das Restaurant habe ich keine Erinnerungen, wir fuhren immer daran vorbei. Es gab nur diese ovalen Teller bei meiner Großmutter, mit einem braunen Juan-y-Medio-Schriftzug darauf. Ich erinnere mich, einmal bei Tisch nach der Herkunft der Teller gefragt zu haben. Es fühlte sich an, als hätte ich allen mit meiner Frage den Appetit verdorben. Ich habe nicht weiter nachgehakt. Das Juan y Medio meiner Kindheit war ein unbekanntes Restaurant, das irgendwann mal irgendjemandem gehört hatte. Irgendwann vor la pelea.
Über viele Jahre hinweg erhielt ich ein zunehmend klareres Bild von der Zeit, als das Juan y Medio noch der ganzen Familie gehört hatte. Sie hatte dort jahrzehntelang in Einigkeit gearbeitet. 1973 aber, im Jahr des Pinochet-Putsches, wurde das Restaurant zum Schauplatz politischer Auseinandersetzungen und zum Objekt einer Familienfehde, die dreißig Jahre lang währte und über die man nicht sprach. Als ich anfing, über einen Film nachzudenken, war mir nicht wohl bei der Sache. Ich würde zum ersten Mal unter dem Tisch hervorkommen und Fragen stellen müssen. Zwar hatte ich als in Deutschland geborene Enkelin und Großnichte ganz gute Karten, denn in den Köpfen meiner Verwandten galt ich als harmlos. Doch wie schnell würde ich ein Teil von la pelea werden, wenn ich nun oben mitmischte?