Rehpfad IV/V – Alte Welt
partizipatives transgenerationales Comic- und Videoprojekt
Wir blicken hinein in den Rumpf einer Boeing 707 mit der Destination Frankfurt am Main. Sechs Sitze in jeder Reihe. Drei zur Linken, drei zur Rechten. Der Flug ist ausgebucht, der Zigarettenrauch eingekapselt auf einer Höhe von 12.000 m. Weißes Rauschen in den Ohren der ins Leere starrenden Fluggäste. Ein unruhiger Geist geht um wie ein blinder Passagier, der jeder und jedem, der und dem er sich auf den Schoß setzt, den Puls hochtreibt. Manikürte Fingernägel kratzen über wollene Sitzbezüge, die zurückkratzen. Die Boeing 707, die den Atlantik überfliegt, passiert die Grenze zwischen der ihnen vertrauten und der unbekannten Welt, die am Ziel ihrer Reise wartet: Die Kopflosen verlassen ihr Land, diese Passagiere wandern aus. Wir schreiben das Jahr 1973.
Viele Menschen, die in den 1970er Jahren aus Chile in die DDR oder die BRD emigrierten, suchten politisches Asyl. Meine Eltern wanderten aus anderen Gründen aus. Ihr konservativer Familienhintergrund und die in ihren Kreisen übliche und zusätzlich durch antikommunistische Propaganda aus dem In- und Ausland geschürte Furcht vor einem zweiten Kuba unter dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende bekräftigte ihren Wunsch, in einem politisch und wirtschaftlich stabilen Land zu leben. Für meinen deutschstämmigen Vater lag es nahe, in die BRD zu gehen. Im November 1972 kehrte er Chile den Rücken und holte ein Jahr später meine Mutter nach. Ihre Ausreise fiel nur zufällig in die Zeit kurz nach dem Militärputsch Augusto Pinochets.
Zuhause essen wir Katzenfutter!
In meiner Jugend kursierte ein moderner Mythos über eine lateinamerikanische Mutter, die im Supermarkt für ihre Kinder günstige Fleischkonserven kauft, weil so niedliche Kätzchen darauf abgebildet sind. Ich habe mitgelacht, denn mich als zugehörig zu definieren hieß, mich von der eigenen Herkunft abzugrenzen und von der Gegenseite aus auf uns selbst herab zu blicken.
Meine Eltern sprachen nie mit uns Kindern über die erste Zeit nach ihrer Ankunft in Deutschland und
wir Kinder fragten unsere Eltern nie nach der ersten Zeit nach ihrer Ankunft in Deutschland. Ich erinnere mich nur an die Erzählung einer Freundin meiner Mutter, die an der Supermarktkasse einmal viel mehr Plastiktüten griff, als sie für ihren Einkauf benötigte. Plastiktüten waren für sie ein Luxus, in Chile nutzte man damals Papiertüten, und hier gab es sie ganz umsonst! Sie freute sich über ihre Beute.
Ich stellte mir vor, wie die deutschen Kundinnen sich gegenseitig Blicke zuwarfen und ihre Köpfe schüttelten, ich schämte mich.
Wo lebten wir eigentlich?
Ich habe im Kreis der chilenischen Freundinnen meiner Mutter nach ihren ersten Eindrücken in Deutschland gefragt:
»Die deutschen Frauen hatten behaarte Beine mit durchsichtigen Strümpfen darüber, und die Haare sahen darunter aus wie gekämmt. Richtige Büschel unter den Achseln und die Nase tat weh vom Schweißgeruch in den Bahnen und Kaufhäusern.«
»Einmal habe ich meine deutsche Schwiegermutter darum gebeten, mir einen Termin bei der Pediküre zu machen. Als ich ins Wartezimmer kam, saßen da nur alte Menschen mit Fußproblemen! Der Podologe verstand mich nicht, und er hatte auch keinen Nagellack da. Also hat er nur ein bisschen Hornhaut abgefeilt, und ich bin vollkommen aufgelöst davongelaufen!«
Die deutschen Frauen der 70er Jahre waren für meine Mutter und ihre Freundinnen ein Rätsel. Anders sozialisiert, blieben ihnen diese kämpferischen Frauen, die in ihren Augen nicht genug auf Körperpflege achteten, die sich ihren Männern ungeschminkt zeigten und nicht um jeden Preis gefallen wollten, suspekt.
Das Bild davon, wie ich zuhause als Tochter und Frau zu sein hatte, prallte auf das Bild, das ich im Außen sah. Die Vorstellungen und Ansichten meiner chilenischen Eltern schienen außer Kraft gesetzt in der Gesellschaft, die uns zwar umgab, aber deren Spielregeln sie nicht interessierten. Die widersprüchlichen Bilder von Frauen waren irritierend und prägend zugleich. In der einen Welt sollte ich schön sein, in der anderen emanzipiert. Ich würde nie in beiden Welten zugleich bestehen können.
Wie durchlässig ist Migration, wie durchlässig macht Migration?
Am Bild der Mutter wird die Tochter ihr Selbstbild reiben, es zerlegen, neu zusammensetzen, korrigieren und zu der Frau werden, die sie sein kann. Doch wie verändert es den Blick der Tochter, wenn das Bild der Mutter zerfällt, weil sie in einer ihr fremden Gesellschaft bestehen muss?
Die Möglichkeit eines vollkommen Neuen, einer Form, die weder das eine noch das andere ist, betritt den Raum. Es beginnt ein Werden, das nicht enden kann: Denn was ist es, was wir werden, wenn es kein Bild davon gibt?
Die Angst vor dem Fremden ist die Angst vor der Auflösung im Anderen
»Ich erinnere mich an die Kälte, an leere Straßen ohne Bäume und an Häuser, aus denen man keinen Laut hörte. Nur alte Menschen in der Nachbarschaft und keine Freunde, die man anrufen konnte.«
»Unsere Ehemänner gingen arbeiten, da waren es mindestens 8 Stunden Einsamkeit am Tag.
Überhaupt diese Abhängigkeit vom Ehemann. Finanziell, aber auch … jemanden zum Sprechen zu haben … Den ganzen Tag stumm sein und nur daran denken, eines Tages zurückgehen zu können.«
Eine kopflose Frau schiebt staunend ihren Einkaufswagen an vollen Regalen vorbei.
Plötzlich bleibt sie stehen, das Gesicht auf ihrer Brust erhellt sich.
Sie greift nach einer Dose Katzenfutter und betrachtet fröhlich das Bild darauf.
Zuhause öffnet sie die Dose, umringt von ihren kleinen, hungrigen, kopflosen Kindern.
Als sie hineinsieht, blickt ihr inmitten einer haarigen Masse das Auge eines Fellwesens entgegen.
Der ewige Übergang
In der Boeing 707 greift eine kleine Hand nach der großen Hand mit den manikürten Fingernägeln und umschließt sie fest. Der Überflug ist nun fast geschafft.
Rehpfad IV/V – Bilder von Frauen und ihren Töchtern in der Fremde
Rehpfad IV/V begleitet die Kopflosen auf ihrer Ausreise aus der ‚Neuen Welt‘ in das geteilte Deutschland, wo die Fellwesen leben.
Dem Comic- und Videoprojekt liegen Bilder und Erzählstränge gesammelter Berichte lateinamerikanischer Frauen zugrunde, die in den 1970er Jahren nach Ost- oder Westdeutschland emigriert sind. Die Inhalte gestalte ich zu gezeichneten und/oder spielbaren Szenen um, indem ich sie miteinander verwebe, verfremde und Erinnerungen aus meiner eigenen Kindheit hinzugebe.
Mein Fokus liegt auf weiblicher Migration und ihrer Bedeutung für das Frauenbild der Töchter und Enkelinnen der Erzählerinnen. Für Rehpfad V werden sie ihre Mütter und Großmütter selbst verkörpern, in die Kostüme kopfloser Wesen schlüpfen, spielen und improvisieren. Es entstehen absurde Filmszenen, Erinnerungsraum für vergangene und Referenzobjekt für aktuelle Migrationserfahrung.